Psychofutter: Etikettierung

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Schwaben sind geizig. Ossis meckern ständig. Deutsche sind pünktlich. Südländer temperamentvoll. Ausländer wollen sich nicht integrieren. Hartz-IV-Empfänger sind faul. Beamte auch. Brillenträger sind Streber. Blondinen sind dumm wie Stroh. Mädchen mögen Rosa. Jungs sind Raufbolde. Frauen können nicht einparken. Und Männer sterben am kleinsten Schnupfen. Diese Liste kann beliebig und unendlich fortgeführt werden.

Uns allen haften derartige Etiketten an, die wir aufgrund unserer äußeren Merkmale (wie Aussehen, Geschlecht, Alter oder Auftreten) von unseren Mitmenschen erhalten haben. Manche dieser Etiketten sind uns bekannt, weil die Menschen sie uns gegenüber offen aussprechen. Andere wiederum sind uns nicht bewusst, weil die Menschen zwar über uns einen bestimmten Eindruck haben, uns diesen jedoch nicht offen mitteilen.

Von der Illusion, unser Gegenüber zu kennen

Noch ein Beispiel: Ist eine Person sehr alt, dann schreiben wir dieser Person ganz automatisch – bewusst oder unbewusst – ganz bestimmte Eigenschaften zu.

Nämlich: Die Person ist (mutmaßlich) langsamer, schwerhöriger und körperlich gebrechlicher, kann nicht mehr so gut Auto fahren und baut im Straßenverkehr mehr Unfälle. Sie ist (mutmaßlich) risikoscheuer, wagt nicht mehr so viel Neues, hält gerne an Altbewährtem fest und ist daher weniger kreativ und innovativ.

So viel zu den negativen Voreinstellungen gegenüber unseren älteren Mitmenschen. Doch es gibt auch positive, denn sehr wahrscheinlich halten wir eine ältere Person auch für weiser, sozial kompetenter und geduldiger, da sie schon mehr Lebenserfahrung hat als wir selbst.

Doch woraus ziehen wir diese Schlüsse? Warum nehmen wir uns das Recht heraus, Menschen, die wir kaum kennen, derartig vorschnell zu be-(ver-)urteilen?

Wir wollen es uns leicht machen und Komplexität reduzieren

All die genannten Eigenschaften können auf eine alte Person zutreffen, müssen es aber nicht. Trotzdem halten sich diese Assoziationen über alte Menschen hartnäckig in unseren Köpfen. So ordnen wir also bestimmten Personengruppen bestimmte Attribute zu, ohne zu prüfen, ob diese auch tatsächlich zutreffen. Solche starren Vorstellungsbilder nennen wir auch „Stereotype“ .

Doch wie entstehen sie?

Jeder von uns hat von klein auf Kontakt zu älteren Menschen. Die meisten Menschen wachsen mit Großeltern (und vielleicht sogar Ur-Großeltern) auf und bekommen somit bereits von Kindesbeinen an ein Bild davon, wie „alte Menschen“ so sind.

In meiner Kindheit beispielsweise trugen Omas geblümte Kittelschürzen, saßen häkelnd oder strickend in einem gemütlichen Sessel, backten Kuchen und kochten leckeres Mittagessen in farbenfrohen Emaille-Töpfen, saßen im Auto häufig auf der Beifahrerseite, jeteten im Vorgarten Unkraut, trugen Hörgeräte und stellten den Fernseher auf maximale Lautstärke und waren sehr herzlich und geduldig mit uns Kindern.

Die Opas trugen häufig Hüte oder eine Brille, hatten nur noch wenig Haar, nutzten beim Spazierengehen Gehstöcke, rauchten Zigarre oder schnupften Schnupftabak.

Stereotype sind uns also nicht angeboren, sondern wir eignen sie uns im Laufe unseres Heranwachsens an. Wir erlernen sie. Sie sind kulturell geprägt. Und sie dienen vor allem einem Zweck, nämlich, unsere komplexe Welt überschaubarer und vorhersehbarer zu machen.

Wenn wir in der Lage sind, Menschen anhand einzelner Merkmale (wie dem Alter) zu beurteilen, dann sparen wir nicht nur wertvolle Zeit, sondern auch (kognitive) Energie. Was könnte also effizienter sein als ein vorschnelles (Vor-)Urteil zu fällen?

Doch es kann auch alles ganz anders sein

Doch das Zurückgreifen auf Stereotype birgt im Alltag die Gefahr, dass wir Fehl-Urteile treffen. Und dass wir unseren Mitmenschen damit gehörig Unrecht tun.

Nicht jeder deutsche Tourist rennt noch vor dem Frühstück zum hotel-eigenen Pool, um sich durch das Überwerfen seines Handtuchs eine Pool-Liege zu sichern. Nicht jeder Russe konsumiert Unmengen an hochprozentigem Gesöff. Und nicht alle Italiener ernähren sich ausschließlich von Pizza und Pasta.

Die Menschen anhand bestimmter Kriterien sprichwörtlich „über einen Kamm zu scheren“, ist nicht nur mächtig oberflächlich, nein, es beraubt uns häufig auch der Chance, unser Gegenüber wirklich kennenzulernen.

Doch unser Gehirn macht es sich nun mal gerne einfach. Anstatt jeden einzelnen Menschen, dem wir im Alltag begegnen, von Grund auf neu bewerten zu müssen, sortiert es die Menschen anhand verschiedenster Merkmale in Schubladen und verpasst ihnen Etiketten. Dies ist eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Doch auch hierbei gibt es eine Fehlerquote.

Wie es in den Wald hinein ruft, ruft es auch wieder heraus

Eine große Gefahr von Etiketten und Zuschreibungen besteht darin, dass sie sich häufig selbst bestätigen. Ganz im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung zeigt der Betroffene, dem ein Etikett anhaftet, möglicherweise unbewusst genau diejenigen Verhaltensweisen, die seinem Etikett zugeschrieben werden.

Ein Arbeitskollege, von dem wir wissen, dass er häufig zu spät kommt und der ebendiese Rückmeldung auch immer wieder von anderen bekommt, wird sich möglicherweise kaum noch anders verhalten können. Das Etikett des „notorischen Zu-Spät-Kommers“ legitimiert ihn ja fast schon dazu, sich auch in Zukunft genau so verhalten zu dürfen. Eventuell spürt er sogar unbewusst, dass dies von ihm erwartet wird. Und er wird diese Erwartung sehr wahrscheinlich verlässlich erfüllen. Und wieder zu spät kommen.

Stereotyp, Vorurteil, Stigma – Wo ist da bitte der Unterschied?

Ein Stereotyp ist die rein kognitive Überzeugung, dass die Mitglieder einer sozialen Gruppe (z.B Alte, Italiener) bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben. Es handelt sich dabei also um eine nüchterne Feststellung, die erstmal weder positiv noch negativ gemeint ist. Beispiele: „Alle alten Menschen sind schwerhörig.“ oder „Alle Italiener essen gerne Nudeln.“.

Ein Vorurteil geht einen Schritt weiter und ist die affektive Bewertung (bzw. Abwertung) einer sozialen Gruppe, die häufig negativ konnotiert ist. Beispiele: „Alle alten Menschen sind starrsinnig.“ oder „Alle Italiener sind Pasta-Fresser.“

Ein Stigma geht noch einen Schritt weiter und spielt sich auf der Verhaltensebene ab. Beispiele: Ein Migrant bekommt aufgrund seiner nicht-deutschen Herkunft eine Wohnung nicht. Eine Frau bekommt bei gleicher Qualifikation nicht das gleiche Gehalt wie ihr männlicher Kollege. Die Bewerbung einer älteren Person wird aufgrund ihres Alters im Bewerbungsprozess nicht mehr weiter berücksichtigt. Ein Stigma ist somit eng verknüpft mit „Diskriminierung“ und bringt für die Betroffenen reale Nachteile mit sich.

Etiketten gehören auf Einmachgläser, nicht auf Menschen

Etiketten und Stereotype haben zweifelsohne ihre Daseinsberechtigung, denn sie ordnen und sortieren unsere komplexe Welt in überschaubare Kategorien, damit wir uns schneller zurechtfinden und Energie sparen können.

Sobald sie allerdings dazu führen, dass Menschen zu Unrecht abgewertet und im Alltag ungerecht behandelt werden, sind sie nicht länger gerechtfertigt. Dann sind wir gefragt, uns unseres gesunden Menschenverstandes zu bedienen und uns für Gerechtigkeit einzusetzen.

Denn:

„Es ist nie zu spät, um unsere Vorurteile aufzugeben“. (Henry David Thoreau)

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